Aus der Ansprache des Nerchauer Bürgermeisters, Herrn Uwe Cieslack,
anlässlich des 125 jährigen Bestehens des Nerchauer Schützenvereins 1882 e.V.

Wechselvoll wie das Glück, einen Volltreffer zu landen oder daneben geschossen zu haben, so wechselvoll ist die Geschichte der Nerchauer Schützengesellschaft, die am 12. Juni 1882 von Honoratioren der Stadt,
u.a. von den Herren Richard Lorenz, Theobald Wötzold, Ehregott Kunze, Franz Friedrich, Ehregott Schmidt, Wilhelm Kretzschmar, Karl Schneider, Ernst Dietze, Karl Krebs, Gustav Schmidt und Gottlieb Bernhard unter Förderung des damaligen Bürgermeisters König gegründet wurde.

In der Zeit des industriellen Aufschwungs der 1880iger Jahre, in der Nerchau die neue Städteordnung einführte (1873), durch die Eisenbahnlinie Wurzen-Großbothen in das sächsische Verkehrsnetz eingebunden wurde (1877) und sogar eine Kleinbahn hier lang führte (1888), war die Gründung dieses Schützenvereins Ausdruck eines bewussten, fortschrittlichen Bürgertums und damit ein folgerichtiger Schritt sportlich-kultureller Betätigung der Stadtbürger. In den ersten Vereinsjahren erfolgte der Schießsport dabei mit Jagdgewehren im städtischen Steinbruch am Kalkberg.

Doch bereits nach gut zwei Jahren, als sich der Gesellschaft weitere namhafte Herren angeschlossen hatten, wurde 1884 der Bau einer Schießhalle und einer Schießmauer festgelegt. Die Grundsteinlegung erfolgte noch im gleichen Jahr am 30. April. Am 30. Juli nach vierteljähriger Bauzeit wurde die Halle, die ganz aus Holz bestand, bereits eingeweiht.

Das erste Schützenfest veranstaltete der Verein daraufhin am 7./8. Juni 1885. Es brachte den ersten Schützenkönig hervor: es war kein geringerer als der maßgeblich an der Vereinsgründung und an der Herstellung des Schützenhäuschens beteiligte Baumeister Karl Schneider.

Im Jahre 1891 trat die Nerchauer Schützengesellschaft der Wettiner Jubiläumsstiftung der Schützenvereine des Königreiches Sachsen bei. Mit dieser Öffnung für die Landesorganisation einher ging der Wunsch, anstelle des Holzbretterhauses ein massives Schützenhaus zu errichten. Bereits ein Jahr später, am 22. November 1892, fand die Weihe des neuen gemauerten Schützenhauses auf den Muldenwiesen statt, das bis heute dem Verein als Heimstatt dient, wenn auch in veränderter Form.

Den Bau hatte wiederum Schützenbruder und Baumeister Schneider zusammen mit der Firma Franz Schuster ausgeführt. Damals zählte der Verein bereits 81 Mitglieder. Dem Schießstand wurde schließlich ein Schützenhaus zugesellt und am 28. Mai 1893 eingeweiht. Nerchau hatte damit eine gastronomische Attraktion mehr, der Verein nun auch Gesellschaftsräume. Der erste Pächter des Schützenhauses war Richard Lorenz, einer der Gründungsmitglieder der Schützengesellschaft, der anfangs nur für das Sommerhalbjahr eine Schankkonzession erhielt. Er lebte nicht nur von den Schützen und ihren Versammlungen, Übungen und Festen, sondern auch von den vielen Spaziergängern, Sommerfrischlern und Badbesuchern, die an der Mulde unterwegs waren und gern im Schützenhaus am Muldenufer einkehrten.

Zu jener Zeit war reges Leben am Fluss, auch durch den Ruderclub Nerchau, den Radfahrverein „Wanderlust“, den Schwimmverein und die Beamtenschüler, die Ausflüge unternahmen, vor allem aber auch durch den Fährverkehr.
1895 erfolgte die Eintragung der Nerchauer Schützengesellschaft als juristische Person – deutsche Ordnung musste sein! Und wie den alten Fotos zu entnehmen ist, waren die Schützen in ihren Uniformen mit Orden und Auszeichnungen von je her ein schmucker Verein, ähnlich den Kameraden der Feuerwehr. Diese Uniformen und Gewehre konnte sich nicht jeder leisten – es war und ist weiß Gott kein billiges Vergnügen, im Schützenverein dabei zu sein. Dennoch wuchs die Zahl der Mitglieder stetig an.

Bereits 1904, erzählt die Chronik, waren die Schützenfeste so gut besucht, dass der Saal im Schützenhaus die Gäste nicht mehr fassen konnte und man erstmals ein eigenes Tanzzelt auf dem Schützenplatz aufbaute, ähnlich wie heute. Mit einem großen Festumzug feierte der Schützenverein im Jahr 1907 sein 25-jähriges Bestehen und der Wunsch zu einer eigenen Fahne, für die man bereits 1892 einen Grundstock gelegt hatte, kam wieder auf. Leider wurde es dem Verein behördlich verwehrt, das königlich-sächsische Wappen zu führen. Dafür ließ man 1911 schließlich eine Fahne fertigen, die das Nerchauer Stadtwappen trug. Die feierliche Fahnenweihe erfolgte am 18. Juni 1911 im Beisein des damaligen Pfarrers Dr. Hoppe. Diese Fahne ist dank glücklicher Umstände heute noch vorhanden (im Heimathaus), wenn auch durch eine neue ersetzt.

Der 1. Weltkrieg 1914 bis 1918 brachte auch dem Schützenverein Nerchau großen Abbruch, waren doch viele Schützenbrüder „zur Fahne einberufen, auf dem Feld der Ehre“, wie man damals sagte. Das Vereinsgelände wurde Übungsplatz für die Soldaten und das Rote Kreuz. Viele kamen von der Front nicht zurück, darunter der Schützenbruder und Ofenfabrikant Fischer und auch der Gastwirt Paul Zeising.  Nach dem Ende des 1. Weltkrieges formierte sich der Schützenverein neu und hielt bereits 1919 wieder ein Fest ab, allerdings noch ohne Königsschießen, so dass der 1914 ernannte Schützenkönig Max Döche diese Würde bis zum Jahr 1920 behielt. Trotz Wirtschaftskrise und schwerer Zeit wurde das kameradschaftliche Leben im Verein weiter gepflegt und stieg die Mitgliederzahl an, ja wurden gemeinsame Veranstaltungen auch mit anderen Schützen- und Ortsvereinen wie den Turnern, den Radfahrern und den Sängern durchgeführt.

1928 trat die Schützengesellschaft dem Gau Niedersachsen als Mitglied bei, hatte aber auch ihr größtes Unglücksjahr zu verzeichnen, weil sich am ersten Schützenfesttage ein tödlicher Unglücksfall auf dem Schießstand ereignete. Ein Trebsener Schüler wurde von einer verirrten Kugel am Oberschenkel getroffen und verblutete auf dem Weg ins Wurzener Krankenhaus. Nach eingehender Prüfung dieses Unfalls durfte der Schießstand nicht mehr genutzt werden. Der Verein entschloss sich deshalb zum Bau eines unterirdischen Schießstandes, der am Reformationstag des Jahres 1929 mit einem zünftigen Preisschießen eingeweiht wurde und der sich in den Folgejahren außerordentlich gut bewährte. Wenn auch das Schießen immer mit einem gewissen Risiko behaftet ist, zu schweren Unfällen kam es nicht mehr. Als man Ende Juni 1932 das 50jährige Jubiläum feierte, war der Schützenverein auf über 100 Mitglieder angewachsen, wie man auf einem großen Foto von damals, das im heutigen Schützenhaus hängt, betrachten kann. Schützenkönig in diesem Jubiläumsjahr war Otto Böhme, Ehrenvorsitzender Heinrich Liebscher.

1933 entstand ein Schießstand für Kleinkaliber. In diesem geschichtsträchtigen Jahr wurde Adolf Hitler Reichskanzler. Vom Nationalsozialismus und der arisch-braunen Gesinnung völkisch beflügelt, wurden die Schützenbrüder im Geist der damaligen Zeit mit vereinnahmt und „gleichgeschaltet“, um einen historischen Terminus zu verwenden. So endete der Bericht über das 50jährige Jubiläum in der Zeitung „Nachrichten für Nerchau, Trebsen und Umgebung“ vom 25. Juni 1932 mit den heroischen Worten: „Im Angesicht der Not, die uns alle umschließt, sollte sich das deutsche Volk über alles Trennende, über alle Klassenunterschiede hinweg zusammenfinden im Gedanken ans Vaterland, das es zu verteidigen gilt. Notwendiger denn je sind heute Männer, die bereit sind, für das Wohl der Allgemeinheit ihr Bestes zu geben und allen Feinden zu trotzen. Möge auch die Nerchauer Schützengesellschaft niemals von der Erfüllung ihrer geschichtlichen Mission abweichen, möge sie weiter bereit sein zum Dienst an Stadt, Heimat und Staat, zum Dienst am Vaterlande.“ (Soweit der Originalton der 30iger Jahre.) Nebenbei bemerkt ist es interessant, dass die Chronik des Schützenvereins genau in jener Zeit, im Jahr 1938, endete.

In welche große Not diese Gesinnung das deutsche Volk dann gestürzt hat und welche furchtbaren Folgen der 2. Weltkrieg generell hatte, braucht nicht weiter ausgeführt zu werden. Hunderte Männer aus Nerchau und Umgebung, darunter viele Schützenbrüder, waren am Ende als Opfer dieser Zeit zu beklagen. Wie die Chronik vermeldet, starben im 1. Welt krieg 124 Nerchauer, im 2. waren insgesamt 189 Gefallene zu verzeichnen – unvorstellbare Schicksale, die hinter diesen Zahlen stehen. Dazu kamen noch weit mehr Opfer dieses Krieges, Vertriebene, Vermisste, Verschollene.

Es ist nicht verwunderlich, dass das Schützenwesen nach 1945 am Boden zerstört war, einmal, weil kaum noch Männer da waren oder aus dem Feld zurückkehrten, zum anderen, weil es beim Kampf ums tägliche Dasein in der Nachkriegszeit ganz andere Sorgen als das Vereinswesen gab, zum dritten, weil viele felsenfest entschlossen waren, nie wieder ein Gewehr in die Hand zu nehmen und schließlich, weil die Besatzer, unsere sowjetischen Befreier, schon peinlich darauf achteten, dass in dieser Hinsicht nichts mehr losgehen konnte. Ein Besitz von Waffen war verboten, das traditionelle Schützenwesen tabu, die Anlagen verfielen. Nur was politisch opportun, organisiert und vor allem jederzeit kontrollierbar war, wurde fortan zugelassen, so in späteren Jahren die GST, die Gesellschaft für Sport und Technik, die im Schützenhaus Motorräder für Crossläufe hatte, LKWs reparierte oder KK-Schießen übte. Das hielt aber den Verfall der Anlagen nicht auf.

Anfang der 1980iger Jahre war das alte Schützenhaus eine Ruine, der Saal ohne Dach. Nur die herrlichen Bäume hatten die Wirren der Zeit überstanden und waren quasi in den Himmel gewachsen. Auch die Ruinen fielen dann dem Abriss zum Opfer. Die Schießkanäle waren schon lange zugemüllt und verschüttet, woran die Natur einen nicht unerheblichen Anteil hatte, etwa durch das gewaltige Hochwasser im Jahr 1954, das zu Schlammversetzung in Größenordnungen geführt hatte. Auch einige technische Anlagen der Farbenfabrik wurden einfach durch die Schießkanäle hindurchgebaut, weil es kein Vereinseigentum mehr gab, sondern alles Volkseigentum war und der Produktion untergeordnet werden musste.  

1989 kam die Wende, die schließlich zur Wiedergründung des Schützenvereins führte, die dann 1994 vollzogen werden konnte. In Anlehnung an die Gründungszeit nannte sich der Verein „Nerchauer Schützenverein 1882 e.V.“ und wählte mit Jörg-Michael Zielinski den 1. Vorsitzenden.

Aber weil bekanntlich vor dem Erfolg die Götter den Schweiß gesetzt haben, war der Anfang mühevoll. Erinnert sei an die Gründungsversammlung am 21. April 1994 in der alten Bar des Kulturhauses, wo über Satzung und Vereinseintragung diskutiert wurde, an die Verhandlungen zum Verkauf des Areals an den Schützenverein und an die Hürden zur Erlangung der Baugenehmigung. Und die, die dabei waren, denken sicher an die Dreckarbeit beim Beräumen der Schießkanäle und beim Wiedererrichten des Schießstandes, der auf die genial schallbrechenden Mauern der alten Anlage im Jahr 1994 aufgebaut wurde.

Container bildeten ein vorläufiges Vereinsheim. Und so konnte am 05./06. August 1995 das erste Schützenfest nach der Wende als größtes Fest der Stadt Nerchau in alter Tradition, mit Königsschießen und Festumzug wieder gefeiert werden. Dieses Schützenfest etablierte sich -je länger je mehr- zu einem Höhepunkt im Kulturkalender der Stadt, und das von Anfang an:

1995 etwa wurde durch die damals noch existierende Brauerei Cannewitz erstmals wieder Nerchauer Pumpernickel ausgeschenkt.

1998 wurde der Schützenverein auf Beschluss des Stadtrates für besondere Verdienste durch einen Zinnteller geehrt. Da war der in Nerchau geborene Sänger und Entertainer Ekki Göpelt erstmals Gast auf den Muldenwiesen. Im Folgejahr kam zum Schützenfest eine weitere sportliche Veranstaltung hinzu: seit 1999 gibt es die jährlich stattfindende Mulden-Regatta, bei der der Schützenverein als Landgang Nerchau die Verpflegung der Wasserwanderer übernimmt.

Dabei ist die Mulde für den Schützenverein nicht nur ein romantischer Fluss gleichsam vor der Haustür, auf den man gemütlich bei Versammlungen hinausblickt, sondern auch eine unberechenbare Bedrohung, wie das bei dem verheerenden Hochwasser vom 13. August 2002 der Fall war, bei dem nicht nur das Festzelt bis zum Dach in den Fluten stand, sondern ein großer Teil der vorhandenen Anlage völlig zerstört wurde. Der Bau-Container löste sich in seine Bestandteile auf und wurde samt Inventar und Einrichtung weggespült. Als die Flut vorbei war, gab es nur noch Schlamm, Dreck und Gerümpel. Aber mit dem unermüdlichen Enthusiasmus der gut 30 Vereinsmitglieder damals, mit viel Opfern an Zeit, Geld und Kraft, aber auch mit viel Ermutigung von anderen Vereinen und Sponsoren, mit Geld- und Sachspenden geschah fast ein Wunder und entstand das Schützenhaus nach der Flutkatastrophe, völlig verwandelt und rekonstruiert, neu und schöner als vorher – gleichsam ein Phönix aus der Asche, ein wunderschönes Vereinsheim, in dem nun die Versammlungen und Feiern der Schützenbrüder und inzwischen auch Schützenschwestern stattfinden konnten und können.

Bereits 2003 wurde wieder ein Schützenfest in einem völlig erneuerten Schützenhaus gefeiert, 2004 bereits das 10. Mal nach der politischen Wende. Seither hat sich noch viel mehr getan, hat der Verein eine neue Fahne geweiht und sein Umfeld gestaltet, hat moderne Technik in den 75 und 150 m langen Schießbahnen Einzug gehalten, wird neben dem alljährlichen Schützenfest im Januar auch ein Schützenball abgehalten, holen wir aber auch immer tief Luft, wenn Hochwasserstufen ausgerufen werden. Denn die Mulde ist und bleibt ein unberechenbarer Fluss. Dass Uferfiltrat in die Anlagen eindringt, mag hinzunehmen sein. Die Hauptsache ist, dass uns bei der sich abzeichnenden Klimaveränderung solch ein Hochwasser wie 2002 nicht wieder ereilt.

Der Nerchauer Schützenverein hat im 125sten Jubiläumsjahr 2007 insgesamt 33 aktive Vereinsmitglieder und mit seinen gepflegten Anlagen, dem Schützenhaus auf den Muldenwiesen von Nerchau und mit seiner unterirdischen Schießanlage die besten Voraussetzungen, für die Zukunft ein wichtiger und prägender Verein der Stadt zu sein und zu bleiben, so wie es sich die Gründungsmitglieder erhofft hatten.

Interessenten und neue Mitglieder im Verein sind stets willkommen. Ansprechpartner ist der derzeitige 1. Vorsitzende, Schützenbruder Steffen Richter aus Deditz, der die Leitung des Vereins derzeit innehat.

(12.06.2007, Cieslack)

Zum Jubiläum wurden spezielle Anstecker hergestellt
Es wurde auch, zu Feier des Jubiläums, in geringer Stückzahl ein Fahnenband bestellt. Dieses findet sich nicht nur an unserer Fahne wieder, auch die Fahne des Husarenvereins in Grimma ist mit diesem beschmückt.